
Baby, reiß das Fenster auf
Die Luft wird dünn. Trotz meiner trainierten Lungen spüre ich Enge. Morgen werden wir erfahren, ob das Land abgeschottet wird. Isoliert. Gespalten. Verbuhmannt. Aber warum nicht? Schließlich sind wir bereits stigmatisiert und jemand muss der „Schwarze Peter” sein. So ist es immer gewesen. Wer trägt Schuld? Das passt doch gut! Wohin sonst mit den vielen Zeigefingern? Bei den anderen ist es leichter zu werten, zu entscheiden und menschliche Bedürfnisse zu ignorieren.
Wenn es vorbei ist, irgendwann, dann kommen die Leute wieder zum Skifahren, Wandern und Sightseeing, und über den Brenner fahren sie auch in Richtung Süden, aber erst, wenn das Virus Tirol nicht mehr mag. Erst dann donnern Massen über die Grenze. Eigentlich wollte man sich heute einig werden. Kein Problem, wir warten gerne noch länger. Wir haben ja nichts zu tun, außer Existenzen zu retten, einander zu trösten und aus der Perspektivlosigkeit wieder herauszukommen.
Meine Mädchen freuen sich. Wir sind in einer Drogerie und ich gönne es den beiden, in Ruhe Geschenke für ihre Freundinnen auszusuchen. Ich brauche nichts, spaziere gedankenverloren durch die Parfumabteilung. Seit meiner Jugend wünsche ich es mir, ein Parfum zu finden, dessen Duft sich wie eine Signatur auf meiner Haut anfühlen möge, seelenberührende Essenzen, doch nie war es dabei gewesen. Letztlich habe ich diesen Wunsch losgelassen, eigentlich …
Eine Mitarbeiterin fällt mir auf. Ihr Gang eifrig, wach ihr Blick, die Hände flink.
„Darf ich Ihnen helfen?”, fragt sie mit osteuropäischem Akzent, welchen ich sehr charmant finde.
„Ich bin auf der Suche nach einem Parfum, hölzern, weder süß noch sportlich.”
Zu gerne würde ich ihr Gesicht sehen, doch auch mit Mundschutz geht sie über vor Lebensfreude. Neugierig folge ich ihr auf Schritt und Tritt, sie wirbelt herum, doch es ist nichts Passendes dabei. Als ich ihr sage, dass ich einen rein pflanzlichen Duft haben möchte, geht sie schnurstracks auf ein Regal zu.
„Das ist es. Das passt zu Ihnen. Darf ich?”
Entschlossen sprüht es die Expertin auf meinen Handrücken. Bereits beim Auftragen wird mir warm, ich empfinde ein wunderschönes Gefühl, wie Heimkommen.
„Dieses Parfum erzählt die Geschichte von fünf starken Frauen.” Sie holt aus. „Es ist etwas Besonderes, denn die Herznote, eine seltene Rose, blüht nur für zwei Wochen im Jahr und ihren Duft lässt sie erst frei, wenn sie geschnitten wird. Die Basisnoten sind Zedernholz und Amber.” Fast flüstert sie, als ob sie mir ein Geheimnis anvertraue.
„Was bedeutet der Name dieses Parfums?”, möchte ich wissen.
„Das ist der polnische Kosename von Isabel.”
„Isabel, das ist auch mein Name.”
„Na bitte, ich sagte es doch.”
Unsere Augen lächeln sich an.
Völlig unerwartet finde ich den Duft meines Lebens. Schützend umhüllt er meine Haut. Lässt mich atmen. Für immer atmen.
Ich bin eine Tirolerin! Wollte ich noch loswerden. Gerade heute verspüre ich das Bedürfnis, es über die Grenzen hinaus zu brüllen, laut, wie eine Löwin.

Isa Hörmann
Ich spüre die Worte, die ich schreibe. Berühren möchte ich. Erkennen. Und manchmal auch Eis brechen ... Debütroman "Dünnes Glas", 2019 | "Mein Blau" Life is a Story, 2020 | "Die Traumwächterin" Life is a Story, 2021

Wir

Stark durch Zusammenhalt
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