
Das Mädchen im Honigglas
Sie verlor ihre Zeit im Gold. Kleine bemalte Hände betteten ihr Kinnlein für das Schauspiel. Die Manege des Honigs. Ein geheimer Zauber im Glas, der sich für Kinderseelen mit wachen Sinnen für fantastische Abenteuer darbot. Zeitlupengleich durchdrang die Morgensonne die rohweißen Store des Küchenfensters zur Ostseite, während die Geräusche der anderen in der Stille des Augenblicks versiegten. Ein Kiloglas Honig thronte auf dem Küchentisch, etwa mit einem Drittel kostbarsten Nektar befüllt. Neugierig suchende Finger wanderten zum Glas. Das Mädchen drehte dies behutsam um und konnte seinen Blick nicht vom zu Kopfe stehenden Boden des Gefäßes wenden, bis es endlich so weit war und sich ein Tropfen Süße, zaghaft und schwer, gelöst und sich von einer Kugel in einen zarten Honigfall nach unten verwandelt hatte. Berg und Tal, getaucht in den prächtigsten Facetten des Goldes, bis der letzte Honigfunken im Ozean der Bienen verschwand. Das verträumte Kind drehte das Glas ein weiteres Mal um, damit ein neues Märchen seinen Ursprung nehmen konnte und war diese Erzählung zu Ende, begann es einfach wieder von vorne.
Einst in den Malkästen die wertvollste aller Farben, die fein gespitzt auf einen besonderen Moment wartete, auf jenen Moment, wo Sonne, Mond und Sterne zu Papier gebracht und Himmelszelte in kindlich einfachen Strichen und Formen erschaffen wurden, die vollkommener nicht hätten sein können.
Eines Tages zierten zwei Goldfische das Regal des Wohnzimmers, en vogue in den Achtzigern. Wunderschön waren die Fische anzusehen, besonders wenn das Licht der Zeit im Wasser versank. Die beiden schwammen im Kreis, in ihrem Kugelaquarium, den ganzen Tag schwammen sie im Kreis. Das Mädchen wollte den Fischen ihre Freiheit schenken und fand einen Teich für sie. Des Nachbarn Katze hatte Hunger und verspeiste die Fische nach ihrem Spiel. Von Trauer erfüllt hatte das Mädchen erkannt, dass das Leben kein Butterbrot mit Honig ist, dass nicht einmal das Gold sich schützend über sie legen würde, wie Fatimas Hand in alten Schriften.
Noch heute sei das Mädchen von damals dem Bann des Goldes, der Süße und Beschaffenheit des Honigs verfallen. Sie würde sich keine Gelegenheit entgehen lassen, ihre Finger in einem unbeobachteten Moment ins Glas zu tauchen, um ihre Lippen mit Nektar zu benetzen und von der Kindheit zu kosten, die viel zu schnell vorübergegangen war.
Gold.
Jenseits des materiellen Reichtums.
Gold.
Wie die Wärme der Sonne.
Gold.
Gleich dem Träumen eines Mädchens.
Gold.
Wie Honig.
Sie möchte zurück, manchmal. Zurück in die Stille. Zurück in die Geborgenheit des Nichtwissens. Ab und an möchte sie einfach nur zurück, um sich staunend den Kuriositäten hinzugeben, die sonst mit keinerlei Beachtung beschenkt werden. Zurück will sie, das Mädchen, zurück ins Honigglas. Dort ist alles gut. Dort ist alles Gold. Dort leuchtet die Stella Polaris in wolkenlosen Nächten und zeigt ihr den Weg.

Isa Hörmann
Ich spüre die Worte, die ich schreibe. Berühren möchte ich. Erkennen. Und manchmal auch Eis brechen ... Debütroman "Dünnes Glas", 2019 | "Mein Blau" Life is a Story, 2020 | "Die Traumwächterin" Life is a Story, 2021

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