
Die liebenden Fremden
Mit leichtem Gepäck tuckerte ich Tag für Tag per Regionalzug in die Arbeit. Horváts Jugend ohne Gott, Stift und Notizbuch, ein bisschen Kleingeld und eine Schachtel Gauloises, mehr brauchte ich nicht. Mitten in der Ausbildung war ich, gestrandet in der Kieferorthopädie, die sich als Zugpferd meiner bis dato nicht vorhandenen Bodenhaftung herausstellte. Womöglich hätte mich das Land der Träume ab und an am liebsten verschluckt, als Landschaften im Bann der Jahreszeiten an mir vorüberzogen und mich dazu inspirierten, naive Gedichte zu schreiben. Ein Platz am Fenster war immer frei und ich mochte es, besonders im Winter, meine Stirn an das kalte Glas zu lehnen und dem Rattern der Schienen zuzuhören. Manchmal, wenn niemand hinsah, hauchte ich meinen Atem an die Scheibe, zeichnete mit meinem Zeigefinger ein Herz hinein und ließ ein Stückchen da von mir. Viele Herzen sollten es werden, denn viele Jahre waren es gewesen.
Eines Tages, es war im Frühling, die Zeit der Apfelblüte, weckten zwei Fahrgäste meine Aufmerksamkeit. Eine Frau und ein Mann, deren Alter schwer zu schätzen. Was wusste ich damals schon vom Leben und von den Spuren, die es auf den Gesichtern hinterließ? Mit vorsichtigen Schritten traten sie durch die Tür. Die Hand des Mannes ruhte behütend auf ihrem Rücken, er steuerte seine elegante Begleitung mühelos. Sie, die Frau, großgewachsen, schlank, langes dunkles Haar, mit einem Reif aus schwarzem Samt verziert. Auf ihrer Nase hatte eine Hornbrille ein zu Hause gefunden und ihre wohlgeformten Lippen waren lavarot bemalt. Gekleidet war sie in einem Bleistiftrock, eine Bluse und Stöckelschuhe mit gnädigen Absätzen. Der Ausdruck ihres Gesichts, sanftmütig und klug. Er, der Mann, das Pendant dazu, ebenso groß wie sie, eine Bundfaltenhose in Beige, ein Hemd und ein kariertes Sakko mit ledernen Einsätzen an den Ellbogen. Sein hellbraunes gewelltes Haar, schon etwas licht, trug er kurz und nach hinten gekämmt. Auch er blickte durch eine Brille, diese aber mit getönten Gläsern. Die beiden setzten sich in meine Nähe und ihre Körpersprache, ihr stilles Verstehen, ihr einzigartiger Dialog, alles an ihnen berührte mich. Fast jeden Tag stiegen sie ein, an der selben Haltestelle. Und immer, wenn ich das Liebespaar sah, erblühte mein Herz.
Mit meiner Tochter und unserem Hund Felix unterwegs, zünde ich eine Kerze an, in der Kapelle der Wallfahrtskirche Maria Locherboden. Das machen Menschen, die an Wunder glauben, wenn sie danken wollen und voller Hoffnung sind. Von Weitem erkenne ich sie, unverwechselbar, noch immer dieselben, um kein Jahr gealtert, ein Einklang des Einklangs, ein einziges Wir. Hand in Hand gehen sie an uns vorüber, lächelnd, ineinander vertieft und teilen sich ein Bier in der Nachmittagssonne.
Irgendwann werde ich wieder in einen Zug steigen und mich auf die Spuren der großen Dichter begeben. Und wer weiß, vielleicht begleiten mich die liebenden Fremden und legen ihre Hände schützend über mich.

Isa Hörmann
Ich spüre die Worte, die ich schreibe. Berühren möchte ich. Erkennen. Und manchmal auch Eis brechen ... Debütroman "Dünnes Glas", 2019 | "Mein Blau" Life is a Story, 2020 | "Die Traumwächterin" Life is a Story, 2021

Stille des Meeres

Der Kuss
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