
Die Tote im Fluss
Was ist geschehen? Wer wird vermisst? Ein beklemmendes Gefühl breitet sich in mir aus.
Es ist Hochwasser. Schwer wird es werden, unter diesen Bedingungen jemanden zu finden.
Einen Tag später lese ich in der Zeitung, dass eine 31-jährige Mutter mutmaßlich von ihrem Ehemann ermordet worden sei. Der Mann ist geständig. Es heißt, er habe sie mit einem Kissen erstickt und seine Frau anschließend von einer Brücke geworfen.
Unter dieser Brücke fließt der Inn. Er nimmt die junge Frau in seine Kraft. Verschluckt sie lautlos. Umarmt sie. Lässt sie verschwinden. Im reißenden Gewässer.
Mein Atem setzt aus. Ich kann es nicht glauben. Trauer überkommt mich. Mitgefühl. Fassungslosigkeit. Und Wut.
Warum?
Fast täglich gehe ich morgens vor der Arbeit ein paar Schritte. Zum Loslassen der Nacht. Ich bereite mich vor. Auf das Licht. Auf meine Aufgaben. Auf die Menschen, denen ich begegnen werde.
Mein Weg führt mich am Ufer des Inns vorbei. Das Wasser ist trüb und wütet wild. Treibholz verschwindet in den Stromschnellen und taucht Meter später wieder auf.
Inzwischen sind sieben Tage vergangen. Die junge Frau wird immer noch vermisst. Die Wasserrettung, die Feuerwehr, Spürhunde, Freiwillige. Sie alle geben ihr Bestes. Bisher vergeblich.
Ich habe Angst, auf das Wasser zu sehen. Irgendwo im Fluss ruht der Körper dieser Frau. Er lebt nicht mehr. Wurde achtlos weggeworfen.
Wie konnte es dazu kommen? Was ist zwischen dem Ehepaar vorgefallen? Wie zornig, wie hasserfüllt, wie verzweifelt muss man sein, um jemanden zu töten? Einen Menschen, den man einmal geliebt hat.
Wie qualvoll mussten die letzten Momente dieser Frau gewesen sein, bis ihr Herz aufhörte zu schlagen? Wie können das familiäre Umfeld und der Freundeskreis so eine tragische Nachricht verarbeiten? Was wird mit dem Kind geschehen? Wird es jemals darüber hinwegkommen? Ein kleiner Junge hat jetzt keine Mutter mehr. Welche Gedanken gehen dem Täter durch den Kopf?
Diese schöne Tirolerin ist bereits die 11. Frau, die in Österreich 2020 getötet wurde. Niemand wird eine dieser Frauen jemals mehr lachen sehen oder sie umarmen dürfen.
Jene tapferen Kämpferinnen fehlen uns. Genauso, wie jeder andere Mensch, dessen Leben absichtlich ein Ende gesetzt wurde.
In unserem Land, in unserer Gesellschaft gibt es Menschen und Organisationen, die für andere da sind. Leider wird Hilfe zu selten, oft zu spät in Anspruch genommen. Es ist die Scham, die viele davon abhält, sich jemanden anzuvertrauen. Auch die Angst, dass noch Schlimmeres geschehen könnte, wenn familiäre, finanzielle oder zwischenmenschliche Schwierigkeiten die eigenen vier Wände verlassen.
Doch keine Angst kann größer oder bedeutsamer sein, als ein Menschenleben, das über eine Brücke geworfen wird.
Schöne Tote im Fluss. Meine Gedanken sind bei dir. Wo immer du jetzt auch bist…

Isa Hörmann
Ich spüre die Worte, die ich schreibe. Berühren möchte ich. Erkennen. Und manchmal auch Eis brechen ... Debütroman "Dünnes Glas", 2019 | "Mein Blau" Life is a Story, 2020 | "Die Traumwächterin" Life is a Story, 2021

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