
Kraft der Gezeiten
Manchmal schneidet Sehnsucht Glas. Momente, für immer in die Seele eingraviert. Sie durchdringen mit der zarten Schärfe einer Skalpellklinge. Eine Glut, die, kommt auch nur ein einziger Windstoß dazu, zu einem Feuersturm werden kann. Ich fühle mich als Sammlerin. Keine Gegenstände, niemals möchte ich Augenblicke, Begegnungen und Berührungen verlieren. Kraft meines Gedankenguts hole ich Schätze hervor und lasse sie in den Himmel hinauf steigen. Zur Stella Polaris möchten sie fliegen.
Keine Läuferin bin ich, so behaupte ich, und doch renne ich immer wieder los. Davon hie und da. Und manchmal einem Ziel entgegen. Ein paar Läufe habe ich gemacht, meine Grenzen ausgelotet. So bin ich einst in der Stille von Tromsø gerannt, einen Halbmarathon im Winter. Die Kälte des Eismeers schmetterte mir ins Gesicht, es war dunkel, nass, eisig und ich fühlte mich lebendig wie eh und je. Eines Sommers ein anderer Lauf in Regensburg. Die Signale meines Körpers missachtet, so hatte er mir gezeigt, wer hier der König ist.
Kälte und Wärme. Ebbe und Flut. Sonne, Mond und Vollmond. Die Welt dazwischen. Diese wunderbare Welt dazwischen!
Mit meinen Großeltern verbrachte ich eine Woche auf der Insel Krk. Damals war ich sechs Jahre alt. Wir flanierten entlang der Strandpromenade und ich setzte mich ans Ende eines Steges. Fasziniert war ich vom Meer, angetan von dieser atemberaubenden Weite. Das Wasser war so klar, dass ich meinen Blick nicht von der Unterwasserwelt wenden konnte. Fische, Korallen und Seeigel wogen im sanften Takt der Wellen. Ich bat um eine Fahrt mit dem Tretboot. Meine Großeltern zögerten, doch es gelang mir, sie umzustimmen und ich saß von Glück beseelt auf Opas Schoß.
„Fahren wir noch ein bisschen weiter raus? Bitte!“, flehte ich.
„Nein, Isabel, da ist es zu tief. Wir können nicht mehr stehen.“
„Aber ich möchte dorthin, wo der Himmel das Wasser berührt. Ich will so weit raus, dass ich unter mir nichts mehr sehe.“
Wir diskutierten eine Weile und ich zog sämtliche Register meiner Überredungskunst. Schließlich gelang es mir, meine Großeltern umzustimmen, ich musste aber versprechen, auf alle Fälle sitzen zu bleiben.
Mit jedem Meter, der uns dem Horizont näher brachte, fühlte ich mich freier. Plötzlich zog ich mein Kleid aus und köpfelte ins Meer. Vergnügt tauchte ich unter das Boot, schwamm lachend umher, bis ich die entsetzen Rufe und das Winken von Oma und Opa wahrnahm. Wieder zurück, musste ich mir eine ordentliche Standpauke anhören. Meine Großeltern hatten als Nichtschwimmer eine Heidenangst um mich und dennoch, es war der schönste Kopfsprung meines Lebens.
Die Kraft der Gezeiten spiegelt sich zwischen den Polen. Manchmal ist es ein Akt der Dysbalance, der den Puls in die Höhe treibt. Eine Leichtigkeit, basierend auf dem Hauch der Unvernunft. Die stillen Momente jedoch sind es, jenseits der Geschwindigkeit von Grenzen, die den Sehnsuchtsschmerz als größtes Wagnis entblättern. Und dann fließt aus Eis Feuer.

Isa Hörmann
Ich spüre die Worte, die ich schreibe. Berühren möchte ich. Erkennen. Und manchmal auch Eis brechen ... Debütroman "Dünnes Glas", 2019 | "Mein Blau" Life is a Story, 2020 | "Die Traumwächterin" Life is a Story, 2021

Captain Skurrila

Winterstille
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