
WAHRLICHKEIT
„Mama, weißt du, was komisch ist?“ Meine elfjährige Tochter hatte einen besonderen Ausdruck in ihrem Gesicht. „Niemand kann mich genau so sehen, wie ich mich sehe. Das ist doch schade.“ Meine Erstgeborene hatte mich eiskalt erwischt. Die jüngere Tochter malte indessen am Küchentisch, sie wollte sich verträumt geben, doch sie hörte uns aufmerksam zu.
Was wollen die Menschen wahrhaft sehen? Was hören? Diese und ähnlich philosophische Fragen beschäftigen mich seit Jahren. Nächtelang bin ich wach gelegen, habe gegrübelt, hinterfragt, mir Vorwürfe gemacht, bedauert. Viel zu oft blieb ich still und zog mich zurück. Das ist jetzt anders.
Wer sich öffnet, macht sich verwundbar … Ist es der Spiegel? Oder vielmehr das Bild? Ist es die Wahrheit? Die Höhe? Der Fall? Ist es das Lächeln eines Mädchens, oder ist es die Weite, die sich dahinter verbirgt? Ist es der Anschein, oder das Sein? Wer ist tatsächlich dazu bereit, von seichten Gewässern in die Tiefe zu gehen?
Obgleich ich nur ungern Ratschläge erteile, liegt es mir am Herzen, meine Mädchen auf Erfahrungen vorzubereiten, die in den nächsten Jahren auf sie zukommen werden. Ein schwieriges Unterfangen, denn da wird es viele Begegnungen und Beziehungen geben. Da werden Menschen sein, die es gut mit ihnen meinen und andere, die an ihrer Strahlkraft zerbrechen und Dinge tun oder sagen, die sie verletzen werden. Wie werden meine Kinder damit umgehen und wie werden sie mit anderen umgehen? Es wird ein Sturm der Emotionen, der Quantensprünge in deren Entwicklung hervorrufen wird.
Weder Mutter noch Vater sind dazu in der Lage, Enttäuschungen ihrer Kinder zu vermeiden – doch sie können mit ihnen sprechen und gemeinsam versuchen, Erklärungen zu finden. Kinder sollen sich geborgen fühlen und die Gewissheit haben, dass da immer jemand ist, der sie an schlechten Tagen auffängt. Jemand, der sie liebt – unabhängig davon, ob sie etwas „richtig“ oder „falsch“ machen.
Am Tag der großen Frage konnte ich meine Mädchen nur darin bestärken, mutig zu sein. Zu sich selbst zu stehen. Sich anzunehmen und dankbar zu sein, für ihre individuellen Wesenszüge und Talente, für ihren Körper und ihre Schaffenskraft. Das Wort „Nein“ im richtigen Augenblick auszusprechen. Respektvoll mit anderen umzugehen, ihre Meinung klar, doch höflich zu vertreten. Ihre Sorgen, Ängste, Sehnsüchte auszusprechen. Ehrlich zu sein, auch zu sich selbst. Aufzuschreiben, was noch nicht bereit ist, ausgesprochen zu werden. Zu glauben. Zu hoffen. Zu träumen. Mit ihren Freunden zu diskutieren, anstatt sich hinter Smartphones zu verstecken. Neugierig zu sein. Anderen Menschen in die Augen zu sehen. Da zu sein. Zuzuhören. Zu erkennen. Zu reflektieren.
„Ja, mein Schatz, das ist unendlich schade. Scheue dich nie davor, deine Gedanken, die du teilen möchtest, auszusprechen. Je öfter du das tust, desto mehr können die Menschen dein wahres Wesen erkennen.“

Isa Hörmann
Ich spüre die Worte, die ich schreibe. Berühren möchte ich. Erkennen. Und manchmal auch Eis brechen ... Debütroman "Dünnes Glas", 2019 | "Mein Blau" Life is a Story, 2020 | "Die Traumwächterin" Life is a Story, 2021

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